Meinung

Die Ukraine, der “Rest” und die fehlende Diplomatie

Die Ukraine, der "Rest" und die fehlende Diplomatie

Quelle: www.globallookpress.com © RevierfotoVorbild? Grenze zwischen Nord- und Südkorea

Von Dagmar Henn

Einer der Autoren, die im Frühjahr in einer Studie der RAND-Corporation betont hatten, es wäre an der Zeit, dass die USA die Hintertür aus dem Krieg in der Ukraine finden, hat jetzt noch einmal nachgelegt. Mit einem Aufsatz in dem Journal Foreign Affairs.

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Hintergrund dafür dürfte sein, dass die USA in den letzten Tagen ihre Provokationen im Zusammenhang mit Taiwan weiter aufgedreht haben und Samuel Charap schon in der Studie seinen Sorgen Ausdruck verlieh, ein Krieg in der Ukraine und einer mit China wäre auch für die USA zu viel.

Diesmal zitiert er in seiner Einleitung US-Sicherheitsberater Jake Sullivan mit einer Aussage aus dem Juni 2022:

“Wir haben tatsächlich darauf verzichtet, darzulegen, was wir als Endspiel sehen… Wir haben uns darauf konzentriert, was wir heute, morgen, nächste Woche tun können, um die Karten der Ukraine maximal zu verbessern, erst auf dem Schlachtfeld und dann letztlich am Verhandlungstisch.”

An diesem Punkt, so Charaps Vorwurf, stünden die USA noch heute: Sie könnten den Krieg schnell beenden, und sie könnten ihn über Jahre hinziehen. Der Unterschied bestünde nur darin, dass ein längerer Krieg weit höhere Kosten an Menschenleben und Material verursachen würde. Daran kann man erkennen, Charap ist von einem Patt überzeugt; glaubt zwar daran, dass die Ukraine mit ihrer Offensive erfolgreich sein könnte, aber nicht, dass dies Russland zu Verhandlungen bringen würde.

Allzu weit geht also auch sein Realismus nicht – das russische Militär habe “bedeutende Verluste an Mannschaften und Ausrüstung” erlitten, sei aber “selbst in seinem augenblicklichen traurigen Zustand” immer noch imstande, ukrainische Truppen und Zivilisten zu töten. Er glaubt auch die Geschichte von der angeblich gescheiterten “Belagerung von Kiew”.

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Aber zumindest sieht der Politikwissenschaftler die Beschränkungen der ukrainischen Seite. Das ukrainische Militär “hat signifikante Verluste in diesem Krieg erlitten, jüngst in der Schlacht um Bachmut, eine kleine Stadt in der Region Donezk. Kiew steht auch vor Engpässen bei wichtiger Munition, einschließlich Artillerie und Luftabwehr, und der Flickenteppich westlicher Ausrüstung, den es erhalten hat, belastet die Wartung und die Ausbildungsressourcen.” Am Ende müssten sich beide Seiten mit einer Grenzlinie abfinden, die keine von ihnen als internationale Grenze anerkennen würde.

Gleich, was der Westen gerne hätte, es sei unwahrscheinlich, dass sich aus den jetzigen Kämpfen wieder ein regional begrenzter Konflikt machen ließe, wie im Donbass von 2014 bis 2022.

Um Verhandlungen könne der Westen nicht herumkommen, und ein Waffenstillstand des koreanischen Typs könne den Konflikt nicht beenden, so Charap. Bisher sei aus Washington zwar die Behauptung zu hören, der Krieg müsse durch Verhandlungen enden. Jenseits der Versicherungen des Typs “so lange es nötig ist” seien aber keine Details sichtbar.

“Mehr noch, es scheint keinerlei laufende Bemühungen innerhalb der US-Regierung oder zwischen Washington, seinen Verbündeten und Kiew zu geben, die praktischen Fragen und die Substanz eventueller Verhandlungen zu durchdenken. Verglichen mit den Bemühungen, Ressourcen für die Gegenoffensive zu liefern, wird praktisch nichts getan, um das zu gestalten, was als Nächstes kommt.”


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Charap fordert, während der laufenden Kampfhandlungen in Verhandlungen einzutreten, wie dies sowohl in Korea als auch in Vietnam der Fall gewesen sei. Je länger die Kämpfe andauerten, desto schwieriger sei es, diesen Schritt nicht als ein Imstichlassen Kiews wirken zu lassen.

Immerhin, neben seinen Fantasien über eine demilitarisierte Zone und seiner grundlegenden Täuschung, das Kräfteverhältnis betreffend, macht er zumindest ein Zugeständnis: “Selbst wenn es unter den Alliierten Konsens wäre, Kiew die Mitgliedschaft anzubieten (und das ist es nicht): Eine Sicherheitsgarantie für die Ukraine auf dem Weg zu einer NATO-Mitgliedschaft könnte für Russland den Frieden so unattraktiv machen, dass Putin entscheiden könnte, weiterzukämpfen.” Ein gangbares Modell seien hier die Garantien der USA für Israel.

Die Biden-Regierung vernachlässige indes diplomatische Bemühungen:

“Eine ganze neue Kommandostruktur des US-Militärs, die Sicherheitsunterstützungsgruppe Ukraine, wurde für die Hilfe und die Ausbildungsaufgaben geschaffen, geführt von einem drei-Sterne-General mit einem Stab von 300. Aber es gibt keinen einzigen Amtsträger in der US-Regierung, dessen Vollzeitjob in Konfliktdiplomatie besteht.”

Wenigstens eine Kontaktgruppe sollte Charap zufolge eingerichtet werden:

“Eine Endphase, die auf einem Waffenstillstand beruht, würde die Ukraine – zumindest vorübergehend – ohne all ihr Gebiet belassen. Aber das Land hätte die Chance, sich wirtschaftlich zu erholen, und Tod und Zerstörung würden enden. (…) Ein russisch-ukrainischer Waffenstillstand würde auch die Konfrontation des Westens mit Russland nicht beenden, aber die Risiken einer direkten militärischen Konfrontation würden dramatisch zurückgehen und die globalen Konsequenzen des Krieges würden gemildert.”

Charap, der zum Stab des Außenministeriums unter Obama gehörte, drängt also darauf, endlich irgendwie in der Ukraine zu Potte zu kommen, und zwar schon fast mit jedem denkbaren Ergebnis. Die augenblickliche Politik der Biden-Regierung wie auch die Aussagen aus Großbritannien und Polen lassen das aber unwahrscheinlich klingen. Das verbissene Drängen auf die ukrainische Offensive, die um jeden Preis geliefert werden müsse, deutet eher an, dass nach wie vor einzig eine weitere Eskalation denkbar scheint.

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Dies wiederum dürfte damit zu tun haben, dass sich die Wahrnehmung des Ukraine-Konflikts im Westen langsam verändert, weil die globalen Verschiebungen nicht länger verdrängt werden können. So formulierte es die Erz-Neokon Fiona Hill Anfang des Monats in einem Vortrag mit dem Titel “Die Ukraine und die neue Unordnung der Welt”:

“Das wurde nicht, wie Wladimir Putin und andere behaupten, ein Stellvertreterkrieg zwischen den Vereinigten Staaten oder dem ‘kollektiven Westen’ (den USA und ihren europäischen und anderen Verbündeten) gegen Russland. In der gegenwärtigen geopolitischen Arena ist der Krieg nun effektiv das Gegenteil – ein Stellvertreterkrieg für eine Rebellion von Russland und dem ‘Rest’ gegen die Vereinigten Staaten.”

Anstatt dass die USA, wie es wohl geplant war, in Ruhe Russland verfrühstücken und sich dann China zuwenden können, ist die gesamte globale Front bereits in der Ukraine entstanden. Der “Rest”, wie es Hill geradezu euphemistisch formuliert, umfasst die 85 Prozent der Menschheit, die sich nicht hinter den Vereinigten Staaten und ihrer ukrainischen Marionette eingereiht haben. Der Grund, warum Mahner wie Charap, die versuchen, die Schäden irgendwie zu begrenzen, sich in Washington nicht durchsetzen können, liegt vermutlich genau darin.

Ginge es nur um einen Konflikt der Ukraine oder des Westens gegen Russland, könnten Vorschläge, wie Charap sie macht, womöglich funktionieren, auch wenn die Zustimmung Russlands sehr fraglich ist. In einem Stellvertreterkrieg des Westens gegen den “Rest” allerdings sind alle Vorstellungen eines Einfrierens oder einer koreanischen Lösung illusorisch. Denn das Ziel dieses “Rests” ist das Ende des US-Imperiums. Was, ganz ferne am Horizont, einen völlig unerwarteten Ausgang denkbar erscheinen lässt: die vollständige Erfüllung der russischen Forderungen aus dem Dezember 2021 durch den Westen, in der Hoffnung, auf diese Weise zumindest einen Keil zwischen Russland und den “Rest” treiben zu können.

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Eines jedenfalls verdichtet sich immer mehr, und die leichte Panik, die sich sowohl in den Vorschlägen von Charap als auch im Vortrag von Fiona Hill manifestiert, zeigt, dass diese Erkenntnis langsam in Washington dämmert: Bei einer militärischen Auseinandersetzung zwischen dem “kollektiven Westen” und dem “Rest” kann es, noch weit deutlicher als bei den Kriegsspielen “nur” gegen Russland und China, nur ein einziges Ergebnis geben: eine absolute und unvermeidbare Niederlage des Westens. Wer dieses Ergebnis verhindern oder zumindest abmildern will, wäre gut beraten, die diplomatischen Fähigkeiten aus dem Museum zu holen und abzustauben.

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